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Unsere Geschichten

Ich hatte alles

 

Bevor ich in die Genesung kam, wies mich mein Sponsor einmal darauf hin, dass ich im Grunde alles hatte, was ich mir je wünschte – und ich war trotzdem unglücklich. Meine Sucht war seit mindestens 15 Jahren angewachsen, mit zunehmend schmerzhaften Konsequenzen, die ich einfach ignorierte, leugnete oder ablehnte. Ich hatte einen überaus sicheren, professionellen Job, der mir unglaubliche Freiheit gab, meine eigene Zeit zu verwalten, eine Ehe, in der wir uns immer darauf geeinigt hatten, sexuell offen mit anderen zu sein, und einen Ehemann, der sich unserer Beziehung und mir mit Liebe, Fürsorge und Vertrauen näherte. Ich war auch der Überzeugung, dass mein Schwulsein und die Tatsache, dass ich Vorurteile und die Scham, die ich in meiner Kindheit als Mormone erlebt hatte, zurückgelassen hatte, bedeuteten, sexuell befreit zu sein – zu tun, was ich wollte, mit wem immer ich es tun wollte, und es fast ausschließlich mit Drogen zu tun. Mit meiner Sucht kompensierte ich den großen Stress in meinem Beruf und die unrealistischen Erwartungen, die ich an mich selbst stellte, ganz zu schweigen die Schmerzen meiner Vergangenheit. Mein Mann entwickelte co-abhängige Muster, um mit meiner unerbittlich fortschreitenden Sucht fertig zu werden. Er war zunehmend verzweifelt und hoffnungslos in Bezug auf unsere Zukunft, und mein Verhalten machte es uns unmöglich, diese Probleme anzugehen.

Es ist schwer zu sagen, wie es aussah, als ich meinen Tiefpunkt erreichte. Der unmittelbare Auslöser für meine Genesung war eine Reihe von Arbeitsbewertungen, die es nach monatelangen Warnungen schafften, den Nebel meiner Ablehnung endgültig zu durchbrechen und mir klar zu machen, dass meine gesamte Karriere wirklich Gefahr war. Aber im Rückblick, aus der Perspektive meiner sechsjährigen Genesung, sieht der Tiefpunkt viel schlimmer aus. Innerhalb von zwei Jahren hatte ich mich mit HCV und HIV infiziert. Ich hatte vierzehn Monate lang mit Crystal Meth und diversen Cocktails aus anderen Drogen und Alkohol verbracht, ohne Unterbruch, außer etwas Schlaf alle drei oder vier Tage. Ich war high zur Arbeit gekommen und hatte öffentliche Referate gehalten, die andere als „unverständlich“ bezeichneten. Mein Mann und ich hatten ein neues Bett gekauft, vielleicht zwei Jahre zuvor, in einem Moment versuchter Zweisamkeit, weil wir dachten, das könnte unserer Beziehung helfen, aber ich hatte es wegen der Drogen nicht geschafft, eine einzige Nacht mit ihm darin zu schlafen. Ich hatte aufgehört, etwas anderes als Eis und Gatorade zu mir zu nehmen. Mein ganzes Leben drehte sich um Sexpartys, Dating-Webseiten, Saunen und die Suche nach Online-Orten, um sexuelle Fantasien auszutauschen und Drogen zu konsumieren. Und wenn ich mich umschaute, bei den Menschen, mit denen ich am meisten zusammen war, war meine Zukunft auf diesem Weg klar: Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und psychische Erkrankungen – im besten Fall.

Was mir bei der Genesung am meisten schwer fiel, war zunächst das Eingestehen der Verwüstung, die ich verursacht hatte, und das Akzeptieren, dass meine Sucht das Problem war. Ich war am Leiden – so viel war mir bereits klar. Ich hatte Behandlung mithilfe einer Therapie gesucht, bei der ich hauptsächlich über meinen Konsum gelogen habe, indem ich ihn minimierte. Ich besuchte ein 12-Schritte-Meeting, ohne mich dazu zu verpflichten, nüchtern zu sein, in erster Linie, weil ich eines der Mitglieder bei einem Sexdate getroffen hatte und in dieser Begegnung etwas Magisches steckte, das mir einen Einblick in einen Ausweg gab. Aber etwas geschah, als ich jene Arbeitsbewertungen bekam. Zuerst ging ich aus und wurde high. Als ich drei Tage später aufwachte, sagte etwas in meinem Herzen einfach: Es ist vorbei. Das war eine Absichtserklärung; die Arbeit folgte. Ich erklärte mich bereit, mich in Behandlung zu begeben, und als ich damit fertig war, begann ich , die zwölf Schritte zu arbeiten. Seitdem bin ich nüchtern geblieben.

Rückblickend auf mein erstes Jahr waren die größten Hürden hauptsächlich sexueller Natur. Ich hatte nicht oft Suchtdruck – nur bei wenigen Gelegenheiten, bei denen meine Gefühle so intensiv waren, dass ich der Welt vollständig entkommen wollte. Ich wurde jedoch mit voller Wucht mit meiner Sex- und Liebessucht konfrontiert. Ich verbrachte mindestens ein Jahr (oder waren es zwei?) mit endlosen Obsessionen über den Mann, der mein Auslöser war, zum ersten Mal an einem 12-Schritte-Meeting teilzunehmen. Ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Ich konnte nicht aufhören, ihm SMS zu schreiben. Ich konnte nicht aufhören, mir die perfekte Zukunft vorzustellen, die wir zusammen haben würden. Ich war wütend und verwirrt und verletzt und eifersüchtig, dass er mir sagte, wir könnten nicht mehr zusammen schlafen, dass er mich liebte und immer noch dachte, ich sei verdammt sexy, aber wir könnten vorerst nur Freunde sein, und das, was er mir am meisten wünschte, war, nüchtern zu bleiben. Ich musste auch akzeptieren, dass meine alte sexuelle Identität – meine Art, sexuell zu sein, schwul zu sein – etwas war, das ich loslassen musste, weil es mir nicht diente. Zu sehen, dass dies eine Entscheidung war, die ich traf, und nicht etwas, das mir von anderen aufgezwungen wurde, die versuchten, mich zu beurteilen oder zu kontrollieren.

Zum Glück vertiefte ich mich in einem Programm der Genesung und hatte unglaubliche Ressourcen in der Therapie. Dies half mir dabei, dass diese Obsessionen nichts anderes wurden – ein Grund, mich daneben zu benehmen oder mich von meiner Genesung loszusagen. Ich konnte mich darauf konzentrieren, die Schritte zu arbeiten und die Probleme meiner Vergangenheit anzugehen, die meine Sucht angefeuert hatten. Und Schritt für Schritt ein neues sexuelles Ich aufzubauen, indem ich Beziehungen aufbaute, denen ich vertrauen konnte, wo ich neue Dinge ausprobieren und lernen konnte, dass es bei gesunder Sexualität für mich um Spiel, Freude und Vergnügen und hauptsächlich um Verbindung geht. Gemeinsam mit meinem Mann habe ich in sehr schwieriger Arbeit auch eine neue Ehe aufgebaut. Sie ist nun stärker, tiefer, sanfter und verbundener. Meine Genesung war immer auch unsere Genesung.

Wie sieht mein Leben heute aus? Ich habe meine Karriere verloren, oder besser gesagt, ich habe beschlossen, sie aufzugeben, nachdem ich von meinem Job entlassen wurde, und ich bin sehr glücklich über eine neue Arbeit, die besser zu meinem jetzigen Leben passt. Ich lebe jetzt tatsächlich in zwei Beziehungen, und das funktioniert für uns alle. Ich bin mit dem Mann befreundet, von dem ich zwei Jahre lang besessen war. Tatsächlich ist er ein Liebhaber. Und ich bleibe genauso nüchtern, wie ich nüchtern geworden bin – ich arbeite an einem Programm der Genesung, einschließlich der zwölf Schritte. Ich habe einen Sponsor und ich sponsere andere. Ich nehme an Meetings teil. Ich versuche, demütig zu bleiben, indem ich mich auf andere konzentriere, besonders wenn ich wegen Selbstbezogenheit aus der Bahn gerate. Und ich übe Dankbarkeit, indem ich das, was mir gegeben wurde, mit Sorgfalt und Respekt behandle. Mein Leben ist nicht perfekt. Wir haben meinen Bruder vor zwei Wochen an die Sucht verloren. Sein Tod hat mich daran erinnert – dass es in meiner ganzen Genesung um Trauer geht, denn so heile ich und schließe Frieden mit dem Schmerz der Vergangenheit. Was ich jetzt weiß, ist, dass ich das nicht alleine tun kann und ich tu es nicht nur für mich.

(Thomas, Berlin)

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