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Unsere Geschichten

Mein Weg zu geistiger Gesundheit

Zum ersten Mal hörte ich von Crystal Meth Anonymous bei einer Veranstaltung über Chemsex in Berlin, zu der ich eher zufällig gestoßen war. Als ein Fellow seine Geschichte erzählte, wusste ich sofort: CMA ist mein Zuhause. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, mit meiner Geschichte nicht allein zu sein. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit war mein erster Schritt in ein neues Leben. Schon früh war mir klar, dass ich nicht wie die anderen Jungen war. Ich spielte lieber mit den Mädchen, denn die Jungn spielten immer Fussball, wofür ich mich nicht begeistern konnte. Außerdem hatte ich eine unglaubliche Angst vor Bällen, und davon, von einem Ball getroffen zu werden. In der Schule machte ich dauernd gute Noten und bekam Lob von der Lehrerin. Schon bald wurde ich „Streber“ und „Schwuchtel“ genannt. Erst in meiner Pubertät begriff ich, was meine Altersgenossen längst ahnten: Ich fühlte mich zu Männern hingezogen. Die Ausgrenzung von außen führte dazu, dass ich auch innerlich immer mehr Barrikaden gegen außen aufbaute. In meiner Innenwelt war ich entweder besser als alle anderen oder schlechter. Nie fühlte ich mich als Teil von etwas. In meinen späten Teenagerjahren wünschte ich mir nichts sehnlicher als einen Freund, eine große Liebe, ein „glücklich bis an ihr Lebensende“. Doch jede Begegnung mit einem Mann wurde mir nach kurzer Zeit zu viel. Die Realität einer Beziehung hatte nichts mit dem zu tun, was ich mir in meiner Phantasie erträumte. Ich langweilte mich, zog mich zurück, machte Schluss. Und auch Sex war eher unangenehm als erfüllend. Ich wusste nicht, was ich wollte, und konnte somit meinen Sexualpartnern auch nicht vermitteln, was ich wollte. Heute ist mir bewusst, dass ich in jener Zeit sexuelle Handlungen wohl oft lediglich deswegen einging, weil der andere es wollte. Mein eigenes Wollen, meine eigene Lust war zu sehr mit Scham belegt. Als ein Mann, der in den 1990ern sein Coming-out hatte, weiß ich inzwischen, dass die unterschwellige Botschaft, die mir damals mitgegeben wurde, hieß: Bist du schwul, wirst du an AIDS sterben. In meiner ganzen Jugend und im frühen Erwachsenenalter fühlte mich fremd – in der Welt, in meinem Körper, in meinem Leben. Mit Anfang 20 begann ich, Partydrogen zu konsumieren. Zuerst Alkohol und Ecstasy, dann Kokain, Ketamin und GHB. Der Konsum verlagerte sich zunehmend in mein Sexualleben. Und so konnte ich zum ersten Mal Sexualität unbeschwerter genießen. Doch den am meisten passenden Schlüssel fand ich 2009, als ich zum ersten Mal Crystel Meth intravenös konsumierte. Mit einem Mal war all meine Scham über mein sexuelles Begieren, waren all meine Gedanken, Sorgen und Ängste wie weggeblasen – im wahrsten Sinne des Wortes. Stunden- und tagelang konnte ich mich meiner Lust hingeben, ohne auch nur einen Gedanken an etwas anderes zu verschwenden. 2009 war das Jahr, in dem ich wohl am meisten Crystal konsumierte. Ich war in einer turbulenten Beziehung mit einem Mann, der auch viel konsumierte – und der HIV-positiv war. Eigentlich kann ich heute sagen, dass ich in einer Dreiecksbeziehung war mit dem Mann und der Droge. Selbst nachdem mir der Mann gestand, dass er keine Medikamente gegen seine HIV-Infektion nahm, hatten wir ungeschützten Sex. Crystal “erlaubte” es mir, mir keine Gedanken über mögliche gesundheitliche Risiken zu machen. Im Herbst 2009 bekam ich dann die Diagnose: Co-Infektion von HIV und Hepatitis C. In diesem Moment war ich auf der einen Seite beinahe erleichtert, auf der anderen Seite war mir klar, dass ich mit dem Drogenkonsum aufhören wollte. Ich trennte mich von dem Mann und begann die HIV- und später die Hepatitis-C-Therapie. Damals war die Interferontherapie noch sehr krass: Während eines halben Jahres hatte ich jedes Wochenende Fieber und wurde insgesamt immer schwächer. Und trotzdem konsumierte ich wieder – immer tiefer verstrickte ich mich in das, was später als Chemsex bezeichnet werden sollte: Sex und Drogen waren untrennbar miteinander verbunden. Zwwar schaffte ich es mit Hilfe einer Suchttherapie, weniger zu konsumieren. Doch zwischen den Konsumereignissen dachte ich fast ständig an den Konsum. Meine Welt war weiterhin bestimmt durch Einsamkeit, Isolation und Verzweiflung. Ich konnte keine Beziehungen führen – weder zu Freunden, noch zu meiner Familie, und schon gar nicht zu mir selbst. Im Sommer 2016 besuchte ich dann mein erstes CMA-Meeting. Ich fühlte mich sofort verstanden. Es war der Moment, als ich realisierte, dass ich nicht allein war. 2017 zog ich nach Berlin, weil es in nur dort ein CMA-Meeting gab. Tatsächlich war die Genesung der Grund für meinen Umzug in die weltberühmte Partystadt. Da CMA damals nur ein Meeting hatte, begann ich bald, auch zu AA-Meetings zu gehen. In einem queeren AA-Meeting fand ich meinen ersten Sponsor und begann mit der Arbeit an den Zwölf Schritten. Mein letzter Drogenkonsum war etwa im Mai 2017. Ende Juni desselben Jahres wurde mir bewusst, dass auch mein Konsum von Testosteron viel mit meiner Sucht zu tun hatte: Ich machte ein großes Geheimnis daraus und bestellte das Präparat zum Muskelaufbau illegal im Internet. Endlich teilte ich darüber in einem Meeting, und seitdem ist mein Clean-Datum ist der 1. Juli 2017. Die Arbeit an den Zwölf Schritten hat mein Leben verändert. Besonders der Zweite Schritt, in dem es heißt: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, unsere geistige Gesundheit wiederherstellen kann“, hat für mich einen Wendepunkt markiert. Als ich diesen Satz zum ersten Mal las, wusste ich nicht, was „geistige Gesundheit“ wirklich bedeutete. Doch je mehr ich mich mit meinem bisherigen Leben auseinandersetzte, desto mehr wusste ich: “Geistige Gesundheit” ist alles das, was ich bisher nicht hatte. Ich hätte nie geglaubt, dass ich eine gesunde Beziehung zu mir selbst und zur Welt haben kann. Aber die Arbeit an diesem Schritt öffnete mir die Augen. Für mich geht es in dem Schritt nicht nur um Glauben an eine höhere Macht, sondern um die Möglichkeit, meine Gedanken, meine Ängste und meine Scham – und somit meine Handlungen in und mit der Welt – zu heilen. Heute geht es mir selbst an meinem schlechtesten Tag besser als an meinem besten Tag in der aktiven Sucht, selbst wenn nicht immer alles so läuft, wie ich es gerne hätte. Doch genau das war es ja, was mich früher zum Konsum getrieben hat: Die Tatsache, dass es Dinge in meinem Leben gab, die mich herausforderten, verärgerten, verängstigten. Doch inzwischen habe ich gelernt, das Leben zu seinen Bedingungen zu akzeptieren. Zur Zeit habe ich finanzielle Schwierigkeiten und bin auf Jobsuche. Aber ich bin auch seit zwei Jahren in einer Beziehung, vielleicht die erste gesunde Beziehung in meinem Leben überhaupt. Jetzt, mit Mitte vierzig und mit all meinen sowohl negativen als auch positiven Erfahrungen, fühle ich mich zum ersten Mal erwachsen genug, um ein guter Partner zu sein. Ich weiß immer besser, was ich will und was ich nicht will, und kann dies meinem Freund – und anderen Sexualpartnern – viel besser mitteilen. Heute weiß ich, dass geistige Gesundheit nicht etwas ist, das man einfach hat oder nicht hat. Sie zu erlangen ist ein kontinuierlicher Prozess. Und die Arbeit an den Zwölf Schritten hilft mir dabei. Heute ist CMA Berlin eine immer schneller wachsende Gemeinschaft von Süchtigen, die einander helfen, clean und nüchtern zu bleiben. Aber nicht nur das: Wir unternehmen auch immer mehr zusammen: Grillen and einem schönen Sommertag, Spielenachmittage, Kino oder zusammen essen gehen. Ich habe eine Gemeinschaft gefunden von Menschen, die wissen, durch welche dunklen Täler ich gegangen bin. Und die mir dabei helfen, den Aufstieg auf den Berg zu meistern – und mit denen ich die schöne Aussicht genießen kann. (Gero, Berlin)

Ich hatte alles

Bevor ich in die Genesung kam, wies mich mein Sponsor einmal darauf hin, dass ich im Grunde alles hatte, was ich mir je wünschte – und ich war trotzdem unglücklich. Meine Sucht war seit mindestens 15 Jahren angewachsen, mit zunehmend schmerzhaften Konsequenzen, die ich einfach ignorierte, leugnete oder ablehnte. Ich hatte einen überaus sicheren, professionellen Job, der mir unglaubliche Freiheit gab, meine eigene Zeit zu verwalten, eine Ehe, in der wir uns immer darauf geeinigt hatten, sexuell offen mit anderen zu sein, und einen Ehemann, der sich unserer Beziehung und mir mit Liebe, Fürsorge und Vertrauen näherte. Ich war auch der Überzeugung, dass mein Schwulsein und die Tatsache, dass ich Vorurteile und die Scham, die ich in meiner Kindheit als Mormone erlebt hatte, zurückgelassen hatte, bedeuteten, sexuell befreit zu sein – zu tun, was ich wollte, mit wem immer ich es tun wollte, und es fast ausschließlich mit Drogen zu tun. Mit meiner Sucht kompensierte ich den großen Stress in meinem Beruf und die unrealistischen Erwartungen, die ich an mich selbst stellte, ganz zu schweigen die Schmerzen meiner Vergangenheit. Mein Mann entwickelte co-abhängige Muster, um mit meiner unerbittlich fortschreitenden Sucht fertig zu werden. Er war zunehmend verzweifelt und hoffnungslos in Bezug auf unsere Zukunft, und mein Verhalten machte es uns unmöglich, diese Probleme anzugehen. ​Es ist schwer zu sagen, wie es aussah, als ich meinen Tiefpunkt erreichte. Der unmittelbare Auslöser für meine Genesung war eine Reihe von Arbeitsbewertungen, die es nach monatelangen Warnungen schafften, den Nebel meiner Ablehnung endgültig zu durchbrechen und mir klar zu machen, dass meine gesamte Karriere wirklich Gefahr war. Aber im Rückblick, aus der Perspektive meiner sechsjährigen Genesung, sieht der Tiefpunkt viel schlimmer aus. Innerhalb von zwei Jahren hatte ich mich mit HCV und HIV infiziert. Ich hatte vierzehn Monate lang mit Crystal Meth und diversen Cocktails aus anderen Drogen und Alkohol verbracht, ohne Unterbruch, außer etwas Schlaf alle drei oder vier Tage. Ich war high zur Arbeit gekommen und hatte öffentliche Referate gehalten, die andere als „unverständlich“ bezeichneten. Mein Mann und ich hatten ein neues Bett gekauft, vielleicht zwei Jahre zuvor, in einem Moment versuchter Zweisamkeit, weil wir dachten, das könnte unserer Beziehung helfen, aber ich hatte es wegen der Drogen nicht geschafft, eine einzige Nacht mit ihm darin zu schlafen. Ich hatte aufgehört, etwas anderes als Eis und Gatorade zu mir zu nehmen. Mein ganzes Leben drehte sich um Sexpartys, Dating-Webseiten, Saunen und die Suche nach Online-Orten, um sexuelle Fantasien auszutauschen und Drogen zu konsumieren. Und wenn ich mich umschaute, bei den Menschen, mit denen ich am meisten zusammen war, war meine Zukunft auf diesem Weg klar: Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und psychische Erkrankungen – im besten Fall. ​Was mir bei der Genesung am meisten schwer fiel, war zunächst das Eingestehen der Verwüstung, die ich verursacht hatte, und das Akzeptieren, dass meine Sucht das Problem war. Ich war am Leiden – so viel war mir bereits klar. Ich hatte Behandlung mithilfe einer Therapie gesucht, bei der ich hauptsächlich über meinen Konsum gelogen habe, indem ich ihn minimierte. Ich besuchte ein 12-Schritte-Meeting, ohne mich dazu zu verpflichten, nüchtern zu sein, in erster Linie, weil ich eines der Mitglieder bei einem Sexdate getroffen hatte und in dieser Begegnung etwas Magisches steckte, das mir einen Einblick in einen Ausweg gab. Aber etwas geschah, als ich jene Arbeitsbewertungen bekam. Zuerst ging ich aus und wurde high. Als ich drei Tage später aufwachte, sagte etwas in meinem Herzen einfach: Es ist vorbei. Das war eine Absichtserklärung; die Arbeit folgte. Ich erklärte mich bereit, mich in Behandlung zu begeben, und als ich damit fertig war, begann ich , die zwölf Schritte zu arbeiten. Seitdem bin ich nüchtern geblieben. ​Rückblickend auf mein erstes Jahr waren die größten Hürden hauptsächlich sexueller Natur. Ich hatte nicht oft Suchtdruck – nur bei wenigen Gelegenheiten, bei denen meine Gefühle so intensiv waren, dass ich der Welt vollständig entkommen wollte. Ich wurde jedoch mit voller Wucht mit meiner Sex- und Liebessucht konfrontiert. Ich verbrachte mindestens ein Jahr (oder waren es zwei?) mit endlosen Obsessionen über den Mann, der mein Auslöser war, zum ersten Mal an einem 12-Schritte-Meeting teilzunehmen. Ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Ich konnte nicht aufhören, ihm SMS zu schreiben. Ich konnte nicht aufhören, mir die perfekte Zukunft vorzustellen, die wir zusammen haben würden. Ich war wütend und verwirrt und verletzt und eifersüchtig, dass er mir sagte, wir könnten nicht mehr zusammen schlafen, dass er mich liebte und immer noch dachte, ich sei verdammt sexy, aber wir könnten vorerst nur Freunde sein, und das, was er mir am meisten wünschte, war, nüchtern zu bleiben. Ich musste auch akzeptieren, dass meine alte sexuelle Identität – meine Art, sexuell zu sein, schwul zu sein – etwas war, das ich loslassen musste, weil es mir nicht diente. Zu sehen, dass dies eine Entscheidung war, die ich traf, und nicht etwas, das mir von anderen aufgezwungen wurde, die versuchten, mich zu beurteilen oder zu kontrollieren. ​Zum Glück vertiefte ich mich in einem Programm der Genesung und hatte unglaubliche Ressourcen in der Therapie. Dies half mir dabei, dass diese Obsessionen nichts anderes wurden – ein Grund, mich daneben zu benehmen oder mich von meiner Genesung loszusagen. Ich konnte mich darauf konzentrieren, die Schritte zu arbeiten und die Probleme meiner Vergangenheit anzugehen, die meine Sucht angefeuert hatten. Und Schritt für Schritt ein neues sexuelles Ich aufzubauen, indem ich Beziehungen aufbaute, denen ich vertrauen konnte, wo ich neue Dinge ausprobieren und lernen konnte, dass es bei gesunder Sexualität für mich um Spiel, Freude und Vergnügen und hauptsächlich um Verbindung geht. Gemeinsam mit meinem Mann habe ich in sehr schwieriger Arbeit auch eine neue Ehe aufgebaut. Sie ist nun stärker, tiefer, sanfter und verbundener. Meine Genesung war immer auch unsere Genesung. Wie sieht mein Leben heute aus? Ich habe meine Karriere verloren, oder besser gesagt, ich habe beschlossen, sie aufzugeben, nachdem ich von meinem Job entlassen wurde, und ich bin sehr glücklich über eine neue Arbeit, die besser zu meinem jetzigen Leben passt. Ich lebe jetzt tatsächlich in zwei Beziehungen, und das funktioniert für uns alle. Ich bin mit dem Mann befreundet, von dem ich zwei Jahre lang besessen war. Tatsächlich ist er ein Liebhaber. Und ich bleibe genauso nüchtern, wie ich nüchtern geworden bin – ich arbeite an einem Programm der Genesung, einschließlich der zwölf Schritte. Ich habe einen Sponsor und ich sponsere andere. Ich nehme an Meetings teil. Ich versuche, demütig zu bleiben, indem ich mich auf andere konzentriere, besonders wenn ich wegen Selbstbezogenheit aus der Bahn gerate. Und ich übe Dankbarkeit, indem ich das, was mir gegeben wurde, mit Sorgfalt und Respekt behandle. Mein Leben ist nicht perfekt. Wir haben meinen Bruder vor zwei Wochen an die Sucht verloren. Sein Tod hat mich daran erinnert – dass es in meiner ganzen Genesung um Trauer geht, denn so heile ich und schließe Frieden mit dem Schmerz der Vergangenheit. Was ich jetzt weiß, ist, dass ich das nicht alleine tun kann und ich tu es nicht nur für mich. (Thomas, Berlin)

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